„Führen lernen von Inspektor Colombo – systemisch ver-rückt“
Buchrezension von Dr. Brigitte Gütl "Systemisch Führen" von Orthey, Frank Michael
Ausgerüstet mit einer feinen Beobachtungsgabe taucht Inspektor Colombo ein ins verbrecherische Milieu und saugt dort alles auf, was ihm in den Blick kommt – und auch was eben nicht. Die eigene Verwirrung konsequent als Ressource nutzend, stellt er permanent mögliche und unmögliche Verknüpfungen her und versucht sich ein Bild zu machen, das er laufend anpasst und revidiert. Er lässt sich überraschen und überrascht. Seine Fragen stellt er gekonnt zirkulär und regt damit nur allzu oft Irritationen, Störungen und Verunsicherungen an, die die Selbstorganisation der von ihm gejagten Verbrecher und Gauner dazu bewegt, letztendlich doch einen Schritt weiter hinein in die Falle zu tappen, die sich im Laufe der gelassenen Interventionen des zerknautschten Inspektors wie von selbst auftun. Das ist Ver-führung à la Colombo. Und die von Frank Orthey? Systemische Interventionen praxisnah erläutern – dazu setzt er geschickt Sprachspiele ein und verknüpft sorgfältig aufbereitete theoretische Grundlagen mit einer sehr anwendungsorientierten praktisch-pragmatischen Werkzeugkiste – verführerisch.
Die Erwartungen, dass Führung stattfindet und Kraft ihrer Interventionen die vielfältigen Probleme, die sich in und um Organisationen häufen, löst, sind eng verbunden mit der Skepsis bezüglich des Gelingens von Führung. Wie kann Führung gelingen, wo doch so vieles dafür spricht, dass Führung (wie wir sie bisher gedacht haben) unmöglich ist? Dass sich der Autor dieser grundsätzlichen Doppelbödigkeit von Führung nicht nur stellt, sondern dieser mit seinem Modell des Pentagramms eine fundierte Umgangsform gegenüberstellt, das ist die weitere Verführung, zu der uns Frank Michael Orthey mit seinem Buch einlädt. Dies bringt uns letztendlich zur wesentlichen Unterscheidung von zahlreichen anderen Führungspublikationen, die der Markt für uns bereithält. „Der Unterschied, der dieses Buch anderen gegenüber auszeichnet, ist, dass die Widersprüchlichkeit von Notwendigkeit und Unmöglichkeit nicht ausgeblendet, sondern im Gegenteil zum Thema, zur Ressource von Führung wird“ (S. 2). Das ist wie bei Colombo. Wie gelingt es, bei aller Verwirrung gelassen zu bleiben, damit zu arbeiten, was einem das Milieu zur Verfügung stellt und auf Selbstorganisation hin zu intervenieren – auch wenn dies zunächst als Störung empfunden wird.
Zu Struktur und Inhalt
Mit seinem Pentagramm stellt Frank Michael Orthey ein Führungsmodell ins Zentrum, das dann auch als konsequenter roter Faden durch das Buch führt. Das Pentagramm ist ein systemtheoretisch fundiertes Führungsmodell, das fünf zentrale Handlungsfelder für Führung definiert. Führungsinterventionen in diesem Modell zielen stets auf Entwicklung der jeweiligen Dimension ab: Aufgaben-entwicklung, Beziehungs-entwicklung, Personenebene (Persönlichkeitsentwicklung), Organisations-entwicklung und Kultur-entwicklung. Dies alles in einer als komplex und in steter Veränderung begriffenen Umwelt.
Und so beginnt es dann auch: Die vielschichtigen Veränderungen im Kontext von Führung werden beschrieben und somit der Rahmen zunächst einmal festgelegt. In all seiner Flüchtigkeit. Um sich nicht in der Komplexität zu verlieren, wird diese wie versprochen als Ressource genutzt, indem das Fünfeck erstmals als Ordnungsrahmen der Veränderungsdynamiken herangezogen wird. Derart aufgeräumt nähern wir uns der nächsten Herausforderung: „Führung als unmögliche Möglichkeit: Ja! Aber wozu?“ lautet die Überschrift von Kapitel 2. Der unmöglichen Möglichkeit von Führung stellt sich der Autor, indem er zunächst den Begriff der Organisation schärft, um auf dieser Basis (und eben nicht einer personalen/persönlichkeitsorientierten!) Möglichkeiten für wirkungsvolle Führung zu finden. Je unmöglicher es scheint zu entscheiden, wohin es wie weiter langgeht, umso wichtiger wird eben diese Ansage. Führung wird zum Hoffnungsträger für die Wiederherstellung abhanden gekommener Sicherheiten. Aber wie? Indem Führung als zielgerichtete Kommunikation verstanden wird, die Kräfte in Bewegung setzt. „Emotionieren“ – Führung entsteht in der Konversation und zwar nicht nur in ihren sprachlich, rationalen Auswirkungen sondern zunächst einmal in ihren emotionalen. Führungskonversationen werden als Begegnungen verstanden, die emotional akzeptabel sind und dadurch wirken können. Das sind jene zentralen Möglichkeiten, die Führung trotz aller Unmöglichkeiten möglich machen.
Im dritten Kapitel wird das Führungsmodell des Pentagramms ausführlich dargestellt. Dabei werden zunächst die fünf Dimensionen einzeln – pur – vorgestellt. Dem Anspruch des Autors, in seinem konzeptionellen Denken konsequent zirkulär zu bleiben, wäre aber nicht Genüge getan, würde es bei dieser Betrachtungsweise bleiben. Systemisch konsequent wird also ums Eck gedacht. Das geschieht, in dem die Geometrie des Pentagramms genutzt wird und die im Schatten der jeweils konzentriert betrachteten Dimension stehende Seite des Modells auf „Schattenaktivität“ hin beobachtet wird. Die Grundfrage lautet dabei: Was ist am weitesten aus dem Blick, wenn wir uns etwa mit den Einzelpersonen und Persönlichkeitsentwicklung beschäftigen? Die Schattenaktivitäten zeigen mögliche Gefahren für Führung auf und helfen, das Denken umzudrehen und in jedem Bezugspunkt, das gegenüberliegende Eck mitzudenken. Wenn wir schon beim Denken sind, sind die Kompetenzen nicht mehr weit. Auch diese lassen sich in Form von Führungskompetenzen im Fünfeck ausmachen. Wird Führung als Konversation verstanden bleibt die wesentliche Frage nach deren Gestaltung. Wie kann Führung im Kontakt entstehen. Frank Ortheys Antwort darauf ist – wen wundert’s? – im Fünfeck angesiedelt. Je nach Zielgerichtetheit ergeben sich unterschiedliche Führungsstile (direktiv, organisierend, modellierend, coachend, dialogisch), die sich ausgehend von einer Art „Heimatterrain“ der Führungsperson situativ abstufen lassen. Außerdem wird in diesem Kapitel der Führung als Motor für „Lernende Systeme“ ein Abschnitt gewidmet.
Im vierten, dem ausführlichsten Kapitel geht es um die Frage wie Führung noch gelingen kann. Dabei geht es unter anderem um sinnstiftende Auseinandersetzungen etwa mit der Haltung oder mit Führungsgrundsätzen – aber auch mit dem Misslingen von Führung und dessen Charme und Chancen – also um die Fehlerkultur. Ein Highlight insgesamt in diesem Buch ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Entscheiden – einer Thematik, die in den allerwenigsten Führungspublikationen grundsätzlich beleuchtet wird. Unter der Überschrift „Führen heißt, unentscheidbare Entscheidungen treffen“ nutzt der Autor sein Modell des Pentagramms als Prozessmodell und konzipiert einen Entscheidungszirkel, in dem Entscheidungen als zirkulärer Prozess verstanden und dialogisch gesteuert werden können. Die Stärke dieser Auseinandersetzung liegt in der Verschränkung eines fundierten Konzeptes mit einer sehr praktischen Methodik. Es geht praktisch weiter. Mithilfe der „Führungsspinne“ kann eine persönliche Positionierung im Fünfeck vorgenommen werden: die Heimathafen-Analyse. Selbsteinschätzung und Fremdbilder helfen das momentan wahrgenommene Führungsverhalten zu schärfen und können anschließend in einem dialogischen Setting zwischen Mitarbeitern und Führungskraft (dem PENTA-log) ausgetauscht und entwickelt werden. Diese Intervention wirkt – zirkulär – im Sinne der eingangs beschriebenen Möglichkeiten von Führung verstanden als „Führungskonversationen“. Dem „Wie“ des Führens werden fünf(!) weitere Führungswerkzeuge nachgeschickt. Jeder Dimension wird eine ausführlich beschriebene Methodik zugeordnet. Da kommt dem versierten Führungsliteraturleser das eine oder andere Instrument bekannt vor – überrascht wird er freilich von Einbindung in das Pentagramm-Modell und die dadurch möglichen Anpassungen sowie die damit verbundenen Innovationen beim Methodeneinsatz.
All dieser Einsatz für systemisches Führen kostet Zeit. Das ist der Teil der Paradoxie und Doppelbödigkeit von Führung. Da sich der Autor ja genau damit auseinandersetzen will – und er ein höchst konsequenter, systemisch denkender und handelnder Mensch zu sein scheint – gibt es auch für dieses Thema Platz und Reflexionsraum im Fünfeck.
Zum Abschluss wird nochmals quergedacht: vom Pentagramm wird ins Tetralemma gewechselt. „Selbst das noch nicht“ – lautet die darin neu gewonnene Dimension, in der Führung nun zu Ende gedacht wird: Führung verrückt; Führung zwischen Dummheit und Humor. Die Liebe des Autors zu Sprachspielen unterschiedlicher Art ist Verführung am Schluss.
Zusammengefasst
Ein Unterschied, der einen Unterschied macht: Das ist dieses Buch. Auf dem bereits angesprochenen breiten Markt der Führungsliteratur ist dieses Buch der wohltuende Unterschied. Die lang erhoffte Differenz zu den zahlreichen Führungs-Ratgebern einerseits und den für Praktiker oft zu wenig pragmatischen theoretischen Abhandlungen über Führung andererseits. Dieses Buch betritt den Zwischenraum. Und das höchst gekonnt und erfolgreich.
Das Werk zeigt, dass es gehen kann, Führung im Zwischenraum des ihr innewohnenden Widerspruches – der hohen Erwartungen einerseits und der niedrigen Möglichkeiten ihres Gelingen andererseits – vielfältig und gleichzeitig klar und Orientierung gebend so anzulegen, dass sie emotional akzeptabel, brauchbar und hilfreich ist. Hilfreich für die Menschen, ihre Arbeitsbeziehungen, ihre Arbeitsaufgaben, die Organisation und die Kultur der Organisation. Das beinhaltet auch ein „Ja“ zur Notwendigkeit von Führung – im Sinne einer zugewandten, sinnstiftenden und die personale und organisationale Identität stärkenden, zielgerichteten Form der Kommunikation, die Kräfte in Bewegung bringt. Das geht (S. 2). Dieser durchaus ambitionierte Anspruch im Vorwort zu diesem Buch ist in der Tat verführerisch. Am Ende ist er mehr als nur gelungen. Die konzeptionell-theoretische Basis hält auch den praktisch-pragmatischen Ansprüchen voll und ganz stand. Widersprüchlichkeiten werden konsequent aufgedeckt und dann keinesfalls trivial vom Tisch gewischt, sondern ganz im Gegenteil zur Ressource für wirkungsvolles Führungshandeln herangezogen. In diesem Sinne arbeitet der Autor wie Colombo: Er beobachtet scharf und perspektivenreich, fügt Phänomen für Phänomen in sein Fünfeck ein, denkt quer und beleuchtet die ausgeblendeten Themen. Über vielfältige methodische Interventionsangebote regt er zur Selbstorganisation an, stellt Lernmöglichkeiten bereit und löst am Schluss doch wieder alles auf. Es könnte auch anders sein. Die so verführte Leserin entscheidet selbst, sich zielgerichtet irritieren zu lassen, taucht tiefer ein und sitzt am Ende doch in der Falle: Wer will schon systemisch verführt sein?! Bleibt die Frage, welcher Wagen in der Garage von Frank Michael Orthey steht (ist es am Ende ebenfalls der legendäre Peugeot 403 Cabriolet?) und ob er einen Trenchcoat trägt?
Buchtipp:
Orthey, Frank Michael, Systemisch führen, Grundlagen, Methoden, Werkzeuge, Schäffer-Poeschel Verlag, Stuttgart 2013, 201 Seiten, ISBN: 978-3-7910-3277-1, www.schaeffer-poeschel.de